Fastentuch von Günter Gutjahr
Zum Fastentuch von Günter Gutjahr
Zwischen dem „Es“, welches dem „Über-Ich“ gleich ist (und wir kennen Freud nicht!), und dem „Ich“ setzt Gutjahr seine künstlerische Aktion. In dieser Blauzone ereignet sich seit sieben Jahren auf unzähligen Blättern und Leinwänden das Geschriebene GEGRÜSSET SEIST DU MARIA. Von niemandem bestellt, von niemandem angeregt, ohne feststellbaren Beginn, ohne dogmatistisches Konzept, ohne absehbares Ende malt Gutjahr das Ave Maria fortwährend wie eine Malmaschine mit weißer Schrift auf tiefblauem Grund. Variabel ist mittlerweile fast nichts mehr. War von Anfang an einzig das repetierende GEGRÜSSET SEIST DU MARIA die Konstante, hat sich nun auch der Hintergrund nach anfänglichen farblichen Versuchen als tiefblau-monochrom festgesetzt. Einzig die Entscheidung, zu welchem Zeitpunkt der Schriftpinsel mit frischer Farbe versehen wird, pendelt in der einen Bilderserie zwischen entschiedenem Zufalls-Generator-Prinzip (das Gutjahrs 12-jährige Tochter eingestellt hat) und der schlichten Notwendigkeit, wenn die Farbe ausgemalt ist. Diese Entscheidung, sagt Gutjahr, sei aber nicht entschieden. Wenn sich auch sonst immer wieder und immer mehr entschieden hat in seinem Werk. Es habe aber nichts an seinem Werk eine absolute Notwendigkeit, man könne nichts mit Sicherheit sagen, auch wenn er es „für unwahrscheinlich halte: ein plötzlicher, durch nichts begründeter Abbruch“ dieses schon jahrelang andauernden Rosenkranz MALBETENS sei nicht nur denkbar, sondern auch faktisch möglich. Der Spielraum für einen individuellen Eingriff scheint mittlerweile sehr schmal geworden zu sein. Aber dennoch ist er um vieles größer, als er etwa für den im künstlerischen Artefakt bildverwandten polnisch-französischen Künstler Roman Opalka ist, der in seinen „Details“ seit 1965 fortlaufend weiße, numerisch ablaufende Zahlen auf nach und nach sich aufhellende Hintergründe schreibt. Sind dort die Individualität der Lebenszeit und die Nicht-Veränderbarkeit einer einmalig getroffenen Entscheidung die unumstößlichen Momente des künstlerischen Konzepts, sind bei Gutjahr ganz andere Beweggründe am Werk: Das allmähliche Akzeptieren eines künstlerischen Vollzugs, das Einwilligen, Wiederholung geschehen zu lassen und das Sich-zur-Verfügung-Stellen für eine permanente Gegenwart.
Johannes Rauchenberger