WIE DU MIR. Gegenbilder für transkulturelles Denken und Handeln
Sind andere Bilder möglich?
Lebensglück für alle! Das scheitert. Der kategorische Imperativ hört auf beim Anderen, dem Unbekannten, dem nicht Vertrauten. Fremde Sitten, Religion, andere Sprachen, ja selbst Hautfarben bilden den Baustoff für Barrikaden der Angst auch um die Festung Europa. Strategien, diese zu durchbrechen, erscheinen als zunehmend hilflos. Xenophobes Denken und Handeln wird zum Unglück all jener, die ihre Herkunftsländer verlassen und sich nicht nur mit ihren Nöten, sondern auch mit ihren Ideen und Träumen auf die Suche machen nach einer besseren Zukunft. Ein zentraler Aspekt der "Gegenbilder für transkulturelles Denken und Handeln" sind jene Stereotypen, die sich als Begleiterscheinung von Fremdenfeindlichkeit in den Köpfen festsetzen. An dieser Stelle öffnet sich für die Kunst ein Wirkungsfeld: Alternative Bilder sind möglich und an der Entwicklung der Gegenwart wird auch unter anderen Vorzeichen gearbeitet. "Wie du mir" arbeitet an Gegenbildern für ein Denken und ein Handeln jenseits nationaler, kultureller und religiöser Begrenzungen. Die Ausstellung befragt in 30 internationalen Kunstpositionen das Integrationspotential des Fremden im kulturellen, nationalen, religiösen Bereich. Die Leitfrage lautet: sind „andere Bilder“ möglich, als jene, die wir bislang für wirklich, real und geschichtsbildend hielten? Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der spätestens seit 9/11 unter ganz neue Prämissen gestellten gesellschaftlichen Relevanz der Religionen unter den Bedingungen der Globalisierung: Bilder für transkulturelles Denken in der Polarität von Integration und Fremdheit, von Subversivität und Schönheit, ja von Ohnmacht und Menschlichkeit sollen aufgelesen werden. Wie könnten solche möglichen Gegenbilder unter den Bedingungen globaler Migration, verlassener und fremd gewordener Heimat und zu Hilfe kommender Religion aussehen, sodass der Kunst jener verwandelnde Charakter zugesprochen werden kann – die den „Strategien zur Vermeidung des Unglücks“ – so das Motto des „Steirischen Herbst“ 08 jene poetische Note verleiht, die vielleicht notwendig wäre, um das schillernde Wort „Glück“ zu bebildern?
"WIE DU MIR" im Priesterseminar und in der KHG-Galerie
Ergin Çavuşoğlu, Quintet Without Borders, 2007, 5teilige Videoinstallation, Haunch of Venison, London
“Quintett ohne Grenzen” ist eine langfristige Kollaboration des bulgarischen Künstlers Ergin Çavuşoğlu mit dem in New York lebenden Filmemacher Konstantin Bojanov. Für die Arbeit haben sie fünf Roma-Musiker aus Kesan eingeladen, sich eine ideale „dream-location“ in ihrer Umgebung auszusuchen. Die Musiker um den weltberühmten Klarinettisten Selim Sesler haben sich am Strand, vor dem Brennofen der lokalen Ziegelfabrik, in einem Taubenschlag, in den Ruinen eines alten Hauses und im Schlafzimmer der Mutter eingefunden, um jeder für sich seinen Part eines traditionelles Liedes zu spielen. Die einzelnen Aufnahmen werden in der fünfteiligen Videoinstallation zusammengeführt und zu einem harmonischen Klang- und Bildteppich verwoben. Die Musiker nehmen dabei Einflüsse aus dem Türkischen, dem Griechischen, dem Romani, dem Jüdischen, dem Bulgarischen, dem Armenischen und dem Arabischen auf. „Quintett ohne Grenzen“ untersucht die Bedeutung von Musik als Mittel der Kommunikation über Kulturen und Grenzen hinweg und die Wichtigkeit, die sie für die marginalisierten Roma-Gemeinden in der Türkei hat. Der melancholisch-poetische Film offenbart die Träume und Wünsche einer Generation, der es bis vor kurzem verwehrt war, ausgedehntere Reisen zu unternehmen und die trotzdem weltoffen lebt.
Donna Conlon, Coexistence, 2003.
In „Coexistence“ defiliert eine Parade von Blattschneiderameisen durch den Regenwald Panamas. Die Insekten transportieren jedoch nicht nur die abgesäbelten Blattstückchen in ihren Bau, sondern wurden mit Friedenssymbolen und kleinen Flaggen der 191 Mitglieder der Vereinten Nationen ausgestattet. Die amerikanische Künstlerin Donna Conlon, die ausgebildete Biologin ist und seit Jahren in Panama lebt, hat den Ameisen diese Botschaften mitgegeben. Die blattgroßen Staatssymbole wurden von dem Kollektiv ohne Unterschied aufgenommen und teilnahmslos in den Bau getragen. Ameisen sind staatenbildende Lebewesen, die durch ein ausgeklügeltes Sozialsystem organisiert sind. Das Fahnentragen und Flaggezeigen der einzelnen im Kollektiv organisierten Tiere entbehrt daher nicht einer gewissen Komik, da gerade die identitätsstiftende Wirkung der Staatssymbole ad absurdum geführt wird. Mit ihrer Tierparabel scheint Conlon uns nahe zu legen, dass Konflikte im Namen einer Fahne im Angesicht eines funktionierenden Gemeinwesens so unnötig wie lächerlich sind. Über eine spielerische Perspektive gelingt ihr eine ernsthafte Reflektion über die Macht des Kollektivs und die daraus resultierende Nichtigkeit von Repräsentations- und Zugehörigkeitssymbolen.
Danica Dakic, Zid (Wand), 1998.
Seit dem mythisch gewordenen Datum 9/11 2001 hat sich die Rolle der Religionen in einem bis dahin kaum zu erwartenden Ausmaß zurückgemeldet, freilich unter den verzerrten Vorzeichen von Angst und Terror. Ein berührendes Gegenbild stellt die Videoarbeit "Prayer" der bosnischen Künstlerin Danica Dakic dar, die während eines mehrmonatigen Aufenthaltes der Künstlerin in New York im Herbst 2001 entstand, dem Ausgangspunkt der Kristallisation einer neuen Angst vor Religion, besonders vor dem Islam. Auf drei, frei im Raum platzierten Rückprojektionsflächen erscheint nach dem Zufallsprinzip wechselnd ein weibliches Gesicht, genauer die Mundpartie einer Frau. Das immense Repertoire an spirituellem Liedgut der professionell ausgebildeten amerikanischen Sängerin erzählt von der Schönheit unterschiedlicher Religionen, Sekten und Synkretismen, von den großen Weltreligionen über Minderheitenreligionen bis hin zu einem Globalisierungsphänomenen wie American Sufi. Nach und nach trägt sie 16 davon vor, wobei sich mit jedem scheinbar beliebigen "Springen" der Projektionen zugleich der Klangraum verschiebt. Die Arbeit entfaltet sich auch in der Spannung zwischen dem alltäglichen und keineswegs perfekten Antlitz der Interpretin und der unspektakulären, uninszeniert wirkenden Aufnahme einerseits und der transzendierenden Kraft der Lieder, die aus unterschiedlichen Religionen erwachsen.
Die 1998 entstandene Video-Installation Zid (Wand), bestehend aus über 60 Mündern verschiedener Personen mit unterschiedlicher Nationalität, die in ihrer Muttersprache vier Minuten aus ihrem Leben erzählen. Als Betrachter ist man mit einer Mauer bruchstückhafter Identität konfrontiert; trotz des Stimmengewirrs werden Einzelne identifizierbar. Das Ausschalten des Sehsinns durch Sprache oder Text ist wichtiges Leitthema für Danica Dakic.
Tomáš Džadoň, Traditional Caravan, 2006, Bleistift und Farbstift auf Papier; Computercollage. Courtesy of the Artist
Der Konflikt kultureller Traditionen in einem veränderten sozialen Umfeld kennzeichnet das Werk des jungen tschechischen Künstlers Tomáš Džadoň. Geboren in der kleinen slowakischen Stadt Poprad wuchs Džadoň in der sozialistischen Utopie eines real existierenden Wohnblocks auf. Seine Inspiration bezieht er jedoch aus der Welt seiner Großeltern, die noch in der traditionellen Lebenswelt tschechoslowakischer Blockhäuser gewohnt haben. Jene althergebrachte Lebensweise mit ihren Gebräuchen und Werten, die der Kommunismus jäh beendete, sucht Džadoň in das 21. Jahrhundert zu überführen. Doch was bedeutet Tradition in einem postkommunistischen Kontext? Wie die kulturellen Tradierungen in ein neues soziopolitisches Umfeld integrieren? Der „Traditionelle Wohnwagen“ sieht vor, ein altes tschechoslowakisches Blockhaus zu demontieren und auf einem Anhänger zu installieren. Traditionen werden mobil, Bezugspunkte ortsunabhängig. Der oft geforderten Mobilität und Flexibilität wird somit Rechnung getragen. Im Zeitalter der Globalisierung ist das Heim, jener Ort, an dem man früher geboren wurde, lebte und auch starb schon lange keine unverzichtbare Größe mehr. Doch Džadoňs humorvolle und intelligente Arbeit lässt die Heimat nun nicht zurück, sondern nimmt sie mit und fährt mit ihr durch die Welt.
Juan Manuel Echavarría, Bocas de Ceniza (Aschenmünder), 2003-04, Video, Courtesy: Josee Bienvenue Gallery, New York
„Bocas de Ceniza“ ist der Name, den die Konquistadoren dem Mündungsdelta des Rio Magdalena aufgrund des Entdeckungstages, eines Aschermittwochs, gegeben haben und über welches sie das heutige Kolumbien erobert und ausgebeutet haben. Bis zum heutigen Tag ist der Fluss ein Symbol für Gewalt und Tod, denn in den unzähligen kriegerischen Konflikten der letzten Jahrzehnte hat man immer wieder Leichen darin verschwinden lassen. Viele der dort ansässigen Kolumbianer wurden Zeugen von grausamen Massakern und das Video zeigt, wie einige von ihnen ihre traumatischen Erfahrungen in Liedern verarbeiten. Juan Manuel Echavarría hat sich seit 2003 auf die Suche nach ihnen gemacht. Das außergewöhnliche an diesen gesungenen Zeugnissen ist, dass nicht einer der Sänger auf Rache sinnt. Nicht ein einziges Wort fällt, das zu Gewalt oder Hass anspornt. In starrer Kameraposition werden die Gesichter der Betroffenen vor weißem Hintergrund gefilmt. Die Augen als Spiegel der Seele, die furchtbare Verletzungen trägt, zeigen eine Sanftheit und Würde, die einen völlig unvorbereitet trifft und berührt. So schrecklich die erlittenen Schicksale gewesen sein müssen, so sehr erfüllen einen diese Menschen mit Hoffnung, weil sie einen Weg jenseits des Hasses aufzeigen, jenseits von Aug um Aug und Zahn um Zahn.
Christian Eisenberger, Abreisende, o.J.
Seit Jahren besetzt der Künstler den öffentlichen Raum mit anonymen Pappfiguren. Eine Frau mit Kopftuch und Koffern spielt darin eine zentrale Rolle: Ist sie obdachlos, kommt sie an, oder reist sie ab aus einer Welt, die nicht die ihre ist? In den Dörfern längst im Verschwinden begriffen, in den Städten nie heimisch geworden, taucht sie als Vertreterin einer fremden Kultur wieder neu im urbanen Kontext auf.
Gyula Fodor, „no door“ photocube (Photoinstallation)
Mit einem Kubus, dem gängigsten Modell, die Zentralperspektive darzustellen, stellt Gyula Fodor die Frage der Darstellbarkeit des Raumes – aber aus der Erfahrung eines Migranten, die für alle MigrantInnen lautet: zugleich innen und außen zu sein. Der Photokubus mit dem Taxi auf der Grenze zwischen Österreich und Ungarn unterstreicht diese visuelle Einschließung: Der Fahrer kann eigentlich nicht aussteigen – Türen und Schlösser fehlen! Trotzdem ist er im vierten Bild aus dem mysteriösen Shuttle verschwunden. Das Paradox, gleichzeitig innen und außen zu sein, wird in gewissem Sinn durch die wachsende Zahl der Migranten (wie der Künstler einer ist) verwirklicht: Sie leben zugleich innerhalb und außerhalb einer Gesellschaft und erleichtern den beschränkten Blick der Ansässigen zu überschreiten und zu weiten.
Daniel Glaser / Magdalena Kunz, Voices I, Cape Town 2008, Videoskulptur mit zwei Talking Heads, 25 min, Coutesy of the Artists
Auf Einladung der Schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia verbrachten Daniel Glaser und Magdalena Kunz in diesem Jahr drei Monate als Artists-in-Residence in Kapstadt. Sie arbeiteten dort mit einheimischen Künstlern und Poeten aus den Townships zusammen, die sie nach ihrem Leben in Südafrika, ihren Hoffnungen und Sorgen, ihren sozialen und politischen Ansichten und nach ihren persönlichen Wünschen befragten. Das Ergebnis ist die kinematografische Skulptur Voices I, die in Form eines bruchstückhaften Dialogs lang ersehnte politische und soziale Veränderungen in Afrika zum Ausdruck bringt. Am Boden hockend und eingehüllt in graue Wolldecken konfrontieren uns zwei “sprechende Köpfe” mit essentiellen Fragen des Zusammenlebens, die ohne Antwort verhallen. Die verbalisierten Zweifel und Hoffnungen, Sorgen und Wünsche spannen dabei ein Terrain auf, das die Grundbedingungen von Migration offenbart. Mit ihrer „verbalen Geografie“ erkunden die beiden Schweizer Künstler in lyrischer Form jenes Feld der Ursachen und stecken somit auch das Gebiet transkulturellen Denkens und Handelns ab. Und so stellen die beiden am Boden sitzenden Protagonisten stetig die drängende Frage, die einer Antwort harrt: “Can you say I am the change?“
Shilpa Gupta, Ohne Titel (There is no Border), 2005-2008, Installation mit Klebeband, Courtesy of the Artist
Die indische Künstlerin Shilpa Gupta hat sich gerade in ihren jüngsten Arbeiten mit dem Freiraum des Individuums angesichts eines allumfassenden Sicherheitsdenkens auf der einen und der Wahrnehmung von Verschiedenheit und Andersartigkeit auf der anderen Seite auseinandergesetzt. Sie ist eine der Initiatorinnen des Aar Paar, eines öffentlichen Kulturaustauschprojekts zwischen Indien und Pakistan und der Video Art Road Show, die Kunstvideos auf den Straßen von Mumbai und Delhi zeigt. Mit ihrem gelben Absperrungsband mit der Aufschrift „There is no Border“ besetzte Shilpa Gupta erstmals auf der Biennale von Havanna 2005 den öffentlichen Raum. In Text und Bild hat sie damit Absperrungen, Abgrenzungen und Limitierungen des alltäglichen Lebens markiert und als solche kenntlich gemacht, um mit der Aufschrift auf dem Band visionär zu verkünden: „Da gibt es keine Grenze“. Es obliegt uns, jene Barrieren und Hindernisse innerhalb einer Gesellschaft oder zwischen Kulturen zu überwinden, da sie gezeichnet, gezogen und konstruiert wurden, wie die Arbeit der Künstlerin. In Graz wird Shilpa Gupta mit MigrantInnen unterschiedlicher Kulturen eine neue Installation erarbeiten, die aus dem persönlichen Erfahrungsschatz der Frauen und Männer mit Grenzen schöpfen wird.
Taline Kechichian, Alles klar, 2008.
Taline Kechichians vertraute Erfahrung der Heimat im Libanon sind Krieg und Gewalt, vertriebene Völker, aber auch selbstverständliche Koexistenz verschiedener Religionen. Ihre Kunstausbildung in Europa war begleitet von der ständig an sie herangetragenen Frage der adäquaten künstlerischen Verarbeitung dieser politischen Daseinsbedingung. Der Reflex auf diese Situation ist für die Künstlerin eine radikale Gegenbildstrategie in scheinbar naiver Tuschmalerei: „Andere Bilder sind möglich“: Menschen, die getrennt marschieren, finden sich im Schattenbild an den Händen verbunden, verschiedene Denkmuster haben sich gefunden, gemeinsam über eine fragile Brücke zu kommen. Die Tuschzeichnungen entstanden in einer militärisch angespannten Situation vor einigen Monaten, als gerade Panzer die Straßen Beiruts kontrollierten.
Via Lewandowsky, Brutkasten, 2005, Kuckucksuhr, Courtesy of the Artist und Galerie Michael Schultz, Berlin.
Der in Dresden geborene Via Lewandowsky nimmt mit seinen Bildern, Collagen, Skulpturen, Performances, Filmen und Installationen regelmäßig Bezug auf gesellschaftliche und politische Situationen. Mit seiner Arbeit „Brutkasten“ spielt er beziehungsreich auf die von rechtskonservativen Kreisen beharrlich geschürte Angst vor Unterwanderung und Überfremdung an. Aus einer Schwarzwälder Kuckucksuhr erschallt zu jeder vollen Stunde anstatt des Kuckucks der Gebetsruf eines Muezzins. Mit ironischem Kalkül und bissigem Humor transformiert Lewandowsky traditionelles deutsches Kulturgut und setzt den xenophoben Unkenrufen unerwartete Affirmation entgegen. Wenn Kultur, die „Software des Geistes“ (Hofstede), sich dem Andersartigen nicht verschließt, sondern neue Wege des „Fremdverstehens“ ebnet, wenn Traditionen verbindend und nicht trennend wirken, wird eine Verständigung über die diversen Unterschiede hinweg ermöglicht und die Zuversicht einer friedvollen Koexistenz der Religionen bestärkt. Die zum Brutkasten deklassierte Kuckucksuhr wird so zum humorvollen Hoffnungsträger, dass ihr dereinst neue Traditionen erwachsen.
Ariel Orozco, I Go through the City and the City Goes through Me, 2005, 6 C-Prints, Myoto Gallery, Polanco / Mexiko
Der in Kuba geborene und seit kurzem in Mexico City lebende Ariel Orozco ist ein Künstler, der mit fast Nichts herausfordernde Arbeiten schafft. Immer wieder zieht er dabei die Stadt und seine Einwohner als Kontext heran, reflektiert die Härte des Überlebens auf der Straße und solidarisiert sich mit den Marginalisierten der Gesellschaft. In seiner Aktion “Ich gehe durch die Stadt und die Stadt durch mich” hat er Passanten in Mexico City angesprochen, die nicht so gut gekleidet erschienen wie er, und ihnen einen Kleidungstausch angeboten. Hat er seinen Weg im Designeranzug begonnen so sieht man ihn drei Tage später völlig verdreckt in den Lumpen eines Obdachlosen durch die Straßen gehen. Wie der Heilige Martin hat er sein Gewand dargeboten, doch ist er nicht herabgestiegen, noch hat er ein Schwert gezückt. Als Gleicher unter Gleichen hat er seinen äußerlichen Status aufgegeben und die mannigfaltigen sozialen Ebenen Mexikos am eigenen Leib erfahren. Damit hat er auch das oberflächliche Verhalten der Gesellschaft konterkariert, die stets bestrebt ist, ihren Status zu erhöhen und durch ihr Erscheinungsbild zu manifestieren. „Ich gebe nicht vor, die Verhältnisse ändern zu wollen, wohl aber die Wahrnehmung der BetrachterInnen und ihr Bewusstsein in Bezug auf eine bestimmte Situation.“
Martin Osterider, "Hotel Heimat", 2005.
Martin Osteriders fotografisches Oeuvre ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit bildimmanenten Fragestellungen, denen er etwa mit selbstreferenziellen Bild-im-Bild-Inszenierungen begegnet, dem oberflächlichen touristischen Blick, den er mit überraschenden, teilweise inszenierten Sujets aus den Angeln zu heben versucht, vor allem aber mit dem Fremden im Eigenen, der er in einem für die Ausstellung „Ich Du Wir“ neu entstehenden Bildzyklus neue Akzente hinzufügen wird. Seine Motive findet er auf Reisen in so unterschiedliche kulturelle Welten wie Japan, Mexiko oder die Vereinigten Staaten. Vor allem in urbanen, multikulturellen Kontexten erprobt und schärft er den eigenen Blick auf fremde Welten und versucht eine Sensibilisierung für dialogische Annäherungen. Was in der Arbeit „Hotel Heimat“ zunächst wie eine geschickte Bildmanipulation erscheint, erweist sich auf den zweiten Blick als ganz objektive Abbildung und Dokumentation einer realen Situation. Die Wahl des Ausschnitts und die subtile Bildkomposition jenseits eines touristischen Schnappschusses vermag aber in dem ganz artfremd über japanischen Werbe- und Hinweistafeln, dem Verkehrsfluss zu ebener Erde und einem buchstäblich vernetzendem Kabelgewirr zwischen Himmel und Erde thronenden Schild zu einem Nachdenkprozess über die Suche nach dem Eigenen im Fremden im „Global Village“ anzuregen.
Adrian Paci, Home to Go, 2001.
Kunst, persönliche Biographie und politisches Statement sind im Werk von Adrian Paci untrennbar miteinander verknüpft. Auf vielschichtige Weise setzt er sich mit dem Schicksal von Emigranten, das auch sein eigenes ist, auseinander. 1997 ist er mit seiner Familie aus den bürgerkriegsähnlichen Zuständen seiner albanischen Heimat nach Italien geflohen. Die meisten seiner Arbeiten sind mit seiner persönlichen Biographie unmittelbar verwoben. Er gibt intime Einblick in sein engstes familiäres Umfeld, wenn er etwa seine dreijährige Tochter mit der Videokamera beobachtet, wie sie die Geschichte ihrer Familie und ihrer Heimat in die suggestiven kindlichen Bilder eines Märchens fasst. Immer aber geht es ihm vor allem um das Allgemeine, das sich im Besonderen, nur subjektiv Erlebbaren erschließt. In seiner fotografisch dokumentierten Performance „Home to Go“ hat er sich ein Hausdach auf den Rücken geschnallt und eröffnet in einer subtilen Anknüpfung und Vermischung der Ikonographie des kreuztragenden Christus und des nach übermenschlicher Freiheit suchenden Ikarus einen assoziationsreichen Blick auf die vielschichtige Bedeutung von Heimat zwischen Last und Bedrängnis, aber auch nicht auszulöschender Sehnsucht: Eindringlich existentielles Bild einer konkreten Biographie wie Abbild einer Erfahrung, die letztlich alle Menschen teilen.
Lidwien van de Ven, Damascus, Ommayad Mosque (2007), Video (DVD), 3 min, Loop. Courtesy the artist; Galerie Paul Andriesse, Amsterdam
Das gezielt suchende und ebenso präzis treffende Kameraauge der niederländischen Künstlerin Lidwien van de Ven gehört in den letzten Jahren immer wieder der Verzahnung von Politik und Religion, ihren Auswirkungen auf westliche Gesellschaften und deren in dieser Beziehung unsicheren Identitäten. Mit der Blickrichtung der westlich dominierenden Islamophobie und deren künstlerischen Befragung und Infragestellung hat die Künstlerin nicht nur bezeichnende Bilder mitten in Europa gefunden, sondern dafür auch weitreichende Reisen, vor allem in den Nahen und Mittleren Osten unternommen. Ihre Videoarbeit „Omojad Mosque“ zeigt einen unscheinbaren Ausschnitt einer ebenso unscheinbaren Szene in der alten und berühmten Omojaden-Moschee von Damaskus. Ein kleines Mädchen liegt am Boden und spielt ganz in sich versunken mit seiner Puppe, während die Männer und Frauen beim Gebet getrennt – und nachher wieder sozial vereint – zusammen sind. Man hört den Atem vorbeigehender Menschen und entfernt auch den Staubsauger, der die Teppiche reinigt: Ein überraschendes Gegenbild in einem der größten Heiligtümern des Islam zu Stereotypen der Angst, nicht zu letzt in einem Bauwerk, der ursprünglich ein Tempel und später eine christliche Kirche gewesen ist, und wo ein separierter Ort auch heute noch Christen vorbehalten ist. Gemeinsame Wurzeln und nicht zu letzt eine gemeinsame Reliquie lässt Religionsgrenzen schwinden – der Kopf des heiligen Johannes des Täufers.
Lidwien van de Ven, Berlin, Video, Loop 16min., 2008.
Ein "Gegenbild" zu gängigen Stereotypen versucht Lidwien van de Ven in ihrer neuesten Video-Arbeit, die eine Frau mit Kopftuch zeigt, die mit kleinen Kindern - blonden und dunkelhaarigen - spielt, mit ihnen deutschsprachige Lieder singt und ihnen einfache Begriffe erklärt.
Lidwien van de Ven, 04 Sept 2002 (Hijab Solidarity Day), 2002
Daphna Weinstein, The Paper Brigade, 2008.
Auf Kleiderbügel aus Putzereien hängt Daphna Weinstein ihre Papierbögen, die in der Raumvertiefung des bloßen Aufhängens eine reliefartige Tiefenstruktur erhalten. Die Metaphorik dieses Bildträgers enthebt dem Motiv seine Bedeutungsschwere und führt es in das Gegenbild seiner eigentlichen Repräsentation. Der Soldat, nicht nur in Israel Inbegriff des Krieges, des Nationalstolzes und der Landesverteidigung, wird isoliert und erhält im Scherenschnitt eine gebrochene Existenzberechtigung. Daphna Weinsteins Blick auf ihr Herkunftsland wird zu einer allgemeinen Frage erweitert.
Gernot Wieland
Im Herbst 2003 bemerkt Gernot Wieland auf einem Laternenpfahl in Berlin eine Annonce, über die er Wochen später in ein offenes Heim für psychisch Kranke findet. Unsicher und zögernd, wie man sich in einer solchen Einrichtung verhält, wie man auf die dort lebenden Menschen zugeht, mit ihnen spricht, nähert er sich einer älteren Frau. Völlig unvorbereitet wird er von ihr sanft in die Arme genommen und minutenlang wie ein Kind gewiegt. Es ist Paulista, die aufgrund von Angstzuständen schon lange in dem Heim lebt. „Sie spricht manchmal wochenlang nicht und ihre einzige Mitteilungsform sind dann physische Gesten, oft ausschließlich Umarmungen.“ (Wieland) Zurückgezogen in der Sprachlosigkeit einer fremden und unbekannten Welt findet Wieland über Bilder eine Möglichkeit der Kommunikation. Gemeinsam schneiden sie aus Zeitungen und Zeitschriften Abbildungen von Menschen aus, die sich umarmen. Es sind Umarmungen der Freude, der Trauer, des Glücks, des Schmerzes, des Trosts und der Verzweiflung. Aus diesen Bilderschnipseln der großen Weltpolitik und der massenmedialen Ereignisse entstehen Collagen als Zeugnisse eines ungewöhnlichen Gesprächs. Schon in früheren Arbeiten hat Wieland zwischenmenschliche Nahverhältnisse ausgelotet, doch weist die offenherzige Geste der Umarmung als Mittel und Möglichkeit der Kommunikation jenseits von sprachlichen Barrieren über ihre Beziehung hinaus.