Theologie im Gespräch: Ist Kirche systemrelevant?
Die Corona-Pandemie habe Verunsicherungen, eine beschädigte Zuversicht, aber auch "den Hunger nach dem Verlässlichen" mit sich gebracht. Letzteres könnten Kirchen aber auch der Kulturbereich anbieten; also jene Sparten denen die "Systemrelevanz" teils abgesprochen wurde, so Glettler in seiner Videobotschaft für die Online-Veranstaltung des Zentrums der Theologiestudierenden zum Thema "Ist Kirche systemrelevant?".
Die "Existenzrelevanz und Sozialrelevanz der Kirche" zeige sich, wenn ihre Botschaft und ihr Zeugnis "den Lebensnerv der Menschen berührt", betonte der Innsbrucker Diözesanbischof und frühere Grazer Pfarrer. Dazu gehöre etwa der Einsatz für Arme, Schutzsuchende oder Fremde, die aus dem "Handlungsfeld einer wohlstandsverwöhnten Gesellschaft" hinausgedrängt wurden. Diese "Option für Armen" gebe der Kirche auch "in den Augen vieler, die mit der Kirche nichts mehr zu tun haben, eine Bedeutung", sagte Glettler in seiner vorab aufgenommenen Videobotschaft; er hielt sich zum Zeitpunkt der Veranstaltung auf der griechischen Insel Lesbos auf.
Der Begriff der Systemrelevanz habe in der Akutphase der Coronakrise eine positive Bedeutung errungen, da sich die Gesellschaft während des ersten Lockdowns noch als "tragende Gemeinschaft" erfahren habe. Nun habe sich der Begriff zu einer Art "Kampfbegriff" entwickelt, da es um die Fragen nach "mehr Bedeutung", Bezahlung und Entschädigung gehe. Diese Entwicklung ist laut Bischof Glettler auch eine Gefahr für die Kirche, etwa wenn entweder Mitglieder ihre eigene "Systemrelevanz infrage stellen" oder ihrer verlorenen Reputation nachlaufen.
Lernbereitschaft notwendig
Die Relevanz der Kirche zeige sich darin, inwieweit sie sich auf das alltägliche Leben von Menschen einlässt, so der Bischof im Zuge der Diskussionsveranstaltung, die in Kooperation mit der Katholisch-Theologischen Fakultät Graz und der KHG Graz abgehalten wurde. Nötig sei eine "hörende und fragende Lernbereitschaft" vonseiten der Kirche im Sinne Jesu. Mission und Evangelisationen hießen somit, dass Kirche eine "verlässliche Stimme sein muss, für die, die mit einer Beeinträchtigung zu kämpfen haben".
"Wenn wir in der Trostlosigkeit unserer Zeit trösten, dann wird uns niemand Systemrelevanz absprechen", konstatierte der Innsbrucker Bischof. Ähnliches gelte für den Bereich der Kultur und Soziales, auch dort gelte es "neugierig, nicht belehrend" zu agieren und "für Menschen auf unterschiedlichsten Ebenen da zu sein". Wenn dies gelinge, werde man "nie diskutieren, ob Kirche gebraucht wird oder nicht".
Keine "Nabelschau"
Die Debatte über die Systemrelevanz der Kirche stehe in Gefahr, eine "Nabelschau zu sein", mahnte Diakonie-Direktorin Moser. So gehe es nicht darum, ob nun öffentliche Gottesdienste abgehalten werden dürften oder nicht, sondern ob die Kirchen ihre Aufgaben wahrnehmen. Mit Letzterem verbunden sei, am Gesellschaftsleben teilzunehmen, und zwar "nicht herrschend, sondern helfend und dienend"; ebenso aber auch, die "Fragmente des Lebens" und Krisen wahrzunehmen.
Kirchen müssten schauen, wo und wie sie "existenzrelevant" sein können, mahnte die evangelische Theologin. Dazu gehöre auch eine "öffentliche Theologie", die die Hilflosigkeit der Menschen angesichts der Coronakrise bemerkt, ein öffentliches Gedenken für Corona-Opfer und Widerstand gegen Diskriminierung und nationalistische Verengungen.
Auch in puncto Seelsorge sei eine Weiterentwicklung nötig, meinte Moser selbstkritisch. So habe die Diakonie im ersten Lockdown Seelsorger aus den Pflegehäusern "ausgesperrt", im zweiten Lockdown nicht mehr. Dies zeige ganz praktisch die Spannung zwischen "Verantwortung und Dilemma". Aktuell müsse der gesellschaftliche Diskurs aber weg von Schuldzuweisungen, denn "wer Verantwortung übernimmt, wird auch Fehler machen", konstatierte Moser.
Die wirkliche Existenzrelevanz von Kirche wird sich laut Moser dann zeigen, wenn die akute Coronagefahr gebannt ist und sich eine gewisse Normalität einstellt. Erst dann würden viele psychische Folgeschäden zutage treten, wie zerrissene Familien, Bildungsrückstände, Armut oder Einsamkeit. "Das dicke Ende kommt erst", prophezeite die Diakonie-Direktorin.
Quelle: kathpress